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Über 150 Jahre im Dienst der Kinder- und Jugendhilfe

Ein Adeliger aus Werl, begütert und mit einem großen Herzen - so beginnt die Geschichte der von Mellin´schen Stiftung und mit ihr die Geschichte des einstigen Waisenhauses auf dem Gute Uffeln zu Werl.

Vom Knabenheim zur modernen Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung

Das Kinderheim Westuffeln wurde nach dem Willen und auf der Grundlage des Testaments unseres Stifters Joseph Freiherr von Mellin (1765 – 1837) gegründet und nach dem Tod seiner Frau Sophia im Juli 1871 eröffnet.  Um dem Stifterwillen gerecht zu werden, hatten sich die Mitglieder des adeligen Stiftungskuratoriums umfassende Informationen über andere Einrichtungen dieser Art verschafft. Es bestanden Kontakte zu Haus Hall, zum Rauhen Haus in Hamburg und zu schweizerischen Armenschulen. Da das Gebäude des Waisenhauses kurz nach Abschluss des deutsch-französischen Krieges fertiggestellt wurde, waren zunächst nicht Kinder, sondern Verwundete die ersten Bewohner in Westuffeln.

Im September 1871 zogen schließlich die ersten 30 Knaben in das Kinderheim Westuffeln ein. Ein weltlicher Rektor, der mit zwei Brüdern aus dem Rauhen Haus zusammengearbeitet hatte, übernahm die Leitung. Außerdem waren in der Einrichtung auch Lehrer tätig, die die Waisenkinder oder solche, deren Eltern sich nicht kümmern konnten, in der einrichtungseigenen Schule unterrichteten.

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In den Folgejahren waren dann Heimeltern für das Knabenheim Westuffeln tätig, die als Diakone der von Bodelschwing`schen Anstalten in Bethel entsandt wurden und sich wie Vater und Mutter um die Erziehung und Pflege der damals 50 Kinder kümmerten. Die untergebrachten Jungen arbeiteten in der Landwirtschaft, in der Gärtnerei, im Haushalt und wurden zur Versorgung der Schweine, Hühner und Esel herangezogen. Wirtschaftlich war das Kinderheim vom eigenen Ertrag abhängig, da es sich nach dem Willen des Stifters durch die forst- und landwirtschaftlichen Besitzungen selbst tragen sollte. Mit Eselskarren wurden die Produkte in die Stadt gebracht und dort auf dem hiesigen Markt verkauft. Die wirtschaftliche Situation bestimmte daher auch den Lebensstandard in Westuffeln.

Im Kontext der gesellschaftlichen Veränderungen der letzten 150 Jahre und den Reformen der Sozialgesetzgebung entwickelte sich das einstige Waisenhaus Westuffeln zu einer heute modernen und leistungsfähigen Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe mit vielfältigen Angeboten für benachteiligte Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene.

Diese bestehen aktuell aus acht stationären Wohnangeboten mit Regel- und Intensivwohngruppen, einem Jugendhaus, einer Fünf-Tage-Wohngruppe und einer Mutter-Vater-Kind-Wohngruppe, vier Tagesgruppen für Kinder und Jugendliche sowie zwei Regionalteams für Ambulante Erziehungshilfen in Werl und Soest. Hinzu kommen spezielle Förderangebote, die als Zusatzleistungen bereitgestellt werden können und meist angebotsübergreifend genutzt werden.

Die Einrichtung finanziert sich heute über die mit dem Kreisjugendamt Soest ausgehandelten Leistungsentgelte, welche eine Vollversorgung und -verpflegung sowie die umfassende Betreuung durch Fachkräfte sicherstellen.

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Die 50er und 60er Jahre – aus der Geschichte lernen

„Wenn Du nicht brav bist, kommst Du ins Heim!“

In der Heimerziehung der 1950er und 1960er Jahre ist Kindern und Jugendlichen in unserem damaligen Evangelischen Knabenheim Westuffeln unter Mitverantwortung der von Mellin'schen Stiftung schweres Leid und Unrecht widerfahren. Die damaligen Heimkinder erlitten menschenunwürdige Demütigungen, Misshandlungen, sexuelle Übergriffe, den missbräuchlichen Einsatz von Arbeit sowie andere Hart- und Kaltherzigkeiten. Anstelle von Wertschätzung, Schutz, menschlicher Zuwendung und Wärme gab es Prügel, Angst und Schrecken. Die Folgen waren für ihr weiteres Leben oft prägend und eine schwere Last. 

Ein Rückblick:
„Unser ganzer Stil war im Grunde gewalttätig...!“

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Damals bestanden in Westuffeln zwei Schlafsaalgruppen für jeweils 20 – 25 Jungen. In einer Gruppe lebten die vier- bis zehnjährigen, in der anderen die zehn- bis vierzehnjährigen Kinder und Jugendlichen. Die Hausleitung lag in den Händen eines von der Diakonenanstalt Nazareth in Bethel entsandten Diakons. Ganz im Gegensatz zu dem bis 1958 tätigen "Hausvater" und seiner Ehefrau, wurde der nachfolgende Hausleiter von den Ehemaligen sehr negativ beschrieben. Wie „abgeliefert“, mit Gefühlen tiefgehender Angst und Verlassenheit, erlebten viele Kinder ihre Zeit im Heim. Ihre kindlichen Bindungswünsche, ihr Bedürfnis nach menschlicher Wärme, Zuwendung und einem persönlichen Rückzugsbereich fanden keine Berücksichtigung. In Westuffeln herrschte oft ein "Kasernenton".

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Die Gewalt auf Seiten der Erzieher und unter den Kindern war sehr hoch. Für die Betreuung einer Schlafsaalgruppe war nur ein Mitarbeiter zuständig. In der Gruppe herrschte eine hierarchische "Hackordnung" mit Prügel, Erpressungen und sexuellen Übergriffen zulasten der jeweils Schwächeren. Ein ehemaliger Diakon aus dieser Zeit resümierte: „Unser ganzer Stil war im Grunde gewalttätig… Ich war überzeugt, dass sich Akzeptanz, Disziplin, Ordnung und Ruhe nur durch Gewalt erreichen ließ.“

Ein von 1962 bis 1968 tätiger Diakon, der als Vertreter des Heimleiters vor allem für die Schlafsaalgruppe der älteren Jungen zuständig war, wurde als ein besonders „furchtbarer Pädagoge“ beschrieben. Mehrere Ehemalige schilderten von ihm ausgeführte sexuelle Übergriffe, körperliche Misshandlungen und Demütigungen.

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„Wir bitten um Verzeihung!“

Als die heutigen Verantwortlichen erkennen wir das geschilderte massive Unrecht und das tief beschämende Versagen unserer Vorgänger an. Uns ist bewusst, dass das schwere Leid und die oftmals lebenslangen Folgen für die Betroffenen letztlich nicht wiedergutzumachen sind. Auch die zwischenzeitlich beschlossenen materiellen Hilfen des Fond Heimerziehung und der Fachstelle für den Umgang mit Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung mögen lindern, können aber keinen Ausgleich leisten. Trotz einiger Einwände haben wir uns für diese Hilfen eingesetzt und begrüßen sie mit Nachdruck.

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Wir danken allen Ehemaligen, die uns viele Jahre dabei unterstützt haben, dieses dunkle Kapitel in unserer Geschichte aufzuarbeiten. Wir haben durch sie viel über die damalige Heimerziehung gelernt. Ihre Besuche in unserer Einrichtung - für manche Ehemaligen die erste Begegnung seit über 50 Jahren - gingen mitunter tief unter die Haut. Uns war wichtig, dass die Schilderungen - über die persönliche Begegnung hinaus - in angemessener Weise dokumentiert und ausgewertet wurden. Aus diesem Grund beauftragten wir in den Jahren 2006/2007 die Fachhochschule Dortmund mit der Durchführung einer Untersuchung zur "Erziehungspraxis im Evangelischen Kinderheim Westuffeln".

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Im Namen der heutigen Verantwortlichen in unserer Stiftung und der Kinder- und Jugendhilfe Westuffeln bitten wir alle betroffenen ehemaligen Heimkinder auf diesem Weg um Verzeihung.

Auch in den Folgejahren haben wir den Kontakt zu betroffenen Ehemaligen weiterhin gesucht. In unserer Verantwortung als Nachfolger dieser "furchtbaren Pädagogik" war und ist es uns wichtig, Besuche und Begegnungen in Westuffeln zu ermöglichen. Alle betroffenen Ehemaligen, die dieses Angebot bisher nicht kennen, möchten wir auf diesem Wege recht herzlich zu einem Besuch in unsere Einrichtung einladen. Diese Einladung schließt selbstverständlich ihre Angehörigen und andere nahestehende Personen mit ein. Für viele Ehemalige ist es wichtig, die früher genutzten Räumlichkeiten noch einmal zu sehen, auch wenn sie ihre alte Funktion längst verloren haben. Diesen Weg und unser Angebot zur persönlichen Aufarbeitung werden wir auch in Zukunft weiter fortsetzen.

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